Einführungsrede von Ute Kronenberger
zur Ausstellung „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“
von Edith Groß, Mai 2022
Ich laufe durch Fürth, die Südstadt, eine Straße in der Nähe des Bahnhofs –
seelenlose, mehr oder weniger moderne Häuser, gleichförmig aneinandergereiht.
Doch dazwischen – ein schönes altes Haus, Jugendstil, Sandsteinfassade…
Hier ist es.
Ich läute, es summt und die große, schwere Eichentür lässt sich öffnen:
Ich stehe in einem dunklen Durchgang, aber aus dem Hinterhof fällt etwas Licht herein und ich erkenne eine alte Eichentreppe.
Die ausgetretenen Stufen und ein hölzerner Handlauf geleiten mich hinauf in das erste Stockwerk. Durch die halbgeöffnete Wohnungstür trete ich ein – und bin in einer anderen Welt.
In der Welt von Edith Groß…
Sie wohnt – nein – sie lebt hier, zusammen mit ihrem Mann, und das spürt man…überall.
Schon im Flur umfängt mich die Wohnung mit warmen Farben und vielen Bildern
Bilder überall…
Selbst unter der hohen Decke sind auf Ablagen Bilder gestapelt.
Auch im Wohnzimmer – viele Bilder… und an der Wand stehen zwei Vitrinen mit von ihr gebauten Marionetten. Zauberer, Hexen, und andere Figuren, die Köpfe, Hände und Füße fein modelliert, die beweglichen Körper opulent und detailreich eingekleidet.
Wenn Edith sie führt, erwachen sie zum Leben – nicht nur für Kinder…
Der blaue Zauberer beschenkt sie mit Süßigkeiten, die er in seinem Ärmel versteckt hält und dann hervor zaubert…
Auch ein Storch ist unter den Marionetten. Sofort denke ich an einige bemerkenswerte Ausstellungen der Künstlerin über diese mystischen Vögel.
Die Schachteln auf dem Schrank enthalten die empfindlichen Pastellkreidebilder, Landschaften, meist am Meer, das die Künstlerin so liebt.
Überhaupt – Reisen ..
Ihre Wege führten sie schon in arabische Länder wie Syrien, Jordanien und in den Jemen, damals, als alles noch friedlicher war. Weiter auf dem afrikanischen Kontinent…
auch in Algerien, Zaire, Tansania und Sansibar war sie früher zu Gast.
Ein Aquarell unter einer alten Wanduhr erinnert an Ihre Lieblingsstadt Venedig,
in der sie drei Monate in einer Dachkammer mit Blick auf den Campanile di San Marco leben durfte und die Stimmung dieser besonderen Stadt in vielen Bildern eingefangen hat.
Edith öffnet für mich die quietschende Tür des alten Malschranks und zeigt mir den kostbaren Inhalt: neben Blöcken, Farbstiften,Tinten und Malkästen werden hier die Aquarelle aufbewahrt, die sie unterwegs und mit der Malstunde der Architekt:innen im Freien angefertigt hat.
Einmal in jedem Monat suchen sie sich gemeinsam ein Ziel in der Umgebung, bei jedem Wetter – und aquarellieren dort vor Ort. Dabei ist mit den Jahren eine erstaunliche Menge an Arbeiten zusammen gekommen – obwohl sie nach strengen Kriterien auswählt.
Wenn ein Bild ihrem kritischen Blick nicht standhält, wird es abgewaschen und bekommt — als Upcycling-Aquarell sozusagen — eine zweite Chance und neue Tiefe durch die noch ganz leicht durchscheinende Untermalung der ersten Arbeit.
Am Ende des langen Ganges befindet sich ihr Atelier.Es ist überraschend hell durch zwei große Fenster, die den Raum zum Hinterhof öffnen, auf den Fensterbrettern Töpfe mit duftendem Lavendel. Die vergessene Lichterkette vom „Advents-Schaufenster in Erlangen“ umrahmt jetzt die Aussicht.
Es ist sehr aufgeräumt hier – trotz der vielen Bilder, die aufgehängt sind oder in Gruppen auf dem Boden stehen – und es ist ein Ort zum Wohlfühlen…Ein Sofa lädt ein, es sich darauf gemütlich zu machen und ganz und gar in diese besondere Welt einzutauchen. An der Türe kleben unzählige Skizzenzettel mit Ideen und Gedanken.
Häufig arbeitet Edith Groß an mehreren Arbeiten nebeneinander… denn wenn sie z.B. spürt, dass ein Bild eine Pause braucht, wird es umgedreht und an die Wand des Ateliers gestellt, für Tage oder Wochen, manchmal auch Monate oder Jahre – solange bis es wieder weitergemalt werden möchte und kann…und in der Zwischenzeit wendet sie sich dann anderen Bildern zu.
Zu Beginn ihres künstlerischen Schaffens standen Zeichnungen und auch heute noch bilden sie oft die Grundlage ihrer Arbeiten. Mit Kohle oder Pastellkreiden oder Aquarellfarbstiften gefertigte Aktzeichnungen dienen als Inspirationen oder werden skizzenhaft direkt auf die Leinwand gezeichnet und Teil des Bildes.
An einer Wand klebt Ittens Farbkreis.
Ich erinnere mich, dass es sehr lange gedauert hat, bis Edith „Grün“ in der Farbigkeit ihrer Bilder zugelassen hat. Ein Bild wie“damals unter Birken“, das dort drüben unter der Decke hängt und übrigens ganz bequem angeschaut werden kann, wenn man da im Liegestuhl liegt, so ein Bild wäre vor Jahren unvorstellbar gewesen…
In ihren Gemälden hatten die Bäume rote Blätter – und das nicht nur im Herbst! – auch die Wiesen waren gelb oder rot oder blau – Selbst wenn wir bei unseren gemeinsamen Exkursionen eindeutig vor einer grünen Pracht saßen und malten – die Farbe Grün nahm Edith erst vor wenigen Jahre in ihre Farbpalette auf!
Inzwischen darf Grün sein – auch wenn es für sie immer noch rote Blätter und Wiesen gibt…
Rot war – und ist immer noch – eine bedeutsame Farbe für sie und wichtiger Bestandteil ihrer Bilder und Ihres Lebens…Aber inzwischen dürfen sich zwischen all den anderen wunderbaren Farben. auch die verschiedenen Grüntöne einreihen: von zartem hellem Maigrün über Neongrün, kräftiges Grasgrün bis hin zu dunklem Waldgrün.
Feinsäuberlich und farblich arrangiert laden die kostbaren Tuben mit Acryl- und Ölfarben, Pigmente, Kreidestifte und Pinsel ein, wieder weiterzumalen. Ziegelsteine und Holzbretter dienen als Staffeleien in ihrem Atelier. Keilrahmenleisten, nach Größe sortiert,warten auf ihren Einsatz, um mit Leinwand bespannt und in vielen Arbeitsschritten und Schichten grundiert und vorbereitet, und schließlich zu Bildern zu werden.
Über lange Zeit beschäftigt sie sich mit ihren Gemälden — immer wieder, stellt sie sie auf den Kopf, dreht und wendet sie, betrachtet sie von allen Seiten.
Was ist interessant? Was gibt einen Impuls?
Und plötzlich sehe ich es… Ein abgegriffenes Buch liegt auf dem alten Zeichentisch ihres Großvaters -„Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, geschrieben von dem tschechischem Schriftsteller Milan Kundera, veröffentlicht 1984 in Paris.
Es ist lange her, als Edith dieses Buch zum ersten Mal las und den Inhalt wieder vergaß. Aber der Titel, der blieb… in ihrem Herzen, in ihren Gedanken und in ihren Bildern.
Ist das Schwere schwer, das Leichte leicht?
Oder kann das Schwere kostbar sein und das Leichte oberflächlich oder sogar zunehmend unerträglich? Macht uns unser konsumorientiertes westliches Leben oberflächlicher und zunehmend achtloser? Leben wir in der Schwere vielleicht intensiver und wahrhaftiger? ….
Liebe Anwesende, Frau Groß wird jetzt mit einem Köfferchen zu ihnen kommen, in dem sich Steine und Federn befinden und ich möchte, dass sich eine jede und ein jeder von ihnen eine Feder oder einen Stein aussucht.
Was haben sie sich ausgesucht? Und warum?
Erschien ihnen die Feder vielleicht zu leicht, zu zart, – zu weiß?
…und sie haben einen Stein gewählt, der angenehm schwer ist, schön und massiv und beständig. Oder haben sie eine Feder ausgesucht – die so wunderbar zart und leicht ist,mit einer Ahnung vom Fliegen – und der Stein dagegen weckte in ihnen Gefühle von Bedrücktheit und Schwere oder gar Bedrohung?
Oder war es ihnen vielleicht schwer gefallen, sich zwischen den beiden zu entscheiden?
Jeder Entscheidung liegen ganz persönliche Gedanken und Beweggründe zugrunde – und diese eigenen Impulse sind auch noch veränderlich… Vielleicht würde ihre Entscheidung morgen ganz anders ausfallen…Alles und jedes kann alles und jedes sein –
je nachdem wer es betrachtet, aus welchem Blickwinkel, zu welcher Zeit, unter welchen Umständen oder Bedingungen..
Die Federn und Steine als Bild für das ganz persönliche Empfinden…in diesem Augenblick… von unerträglich leicht bis wunderbar zart, von erdrückend massiv bis beruhigend schwer.
Unsere Welt hat sich verändert – zuerst Corona, und jetzt, von einem Tag auf den anderen,
Krieg, – hier in Europa.
Ich fühle mich oft, als ob mein ganzes Weltbild ins Wanken geraten sei, mein Wissen mir nicht mehr weiterhilft, meine vermeintliche Sicherheit und Geborgenheit so schnell und leicht zu erschüttern sind, das Äußere unberechenbar und vollkommen unvorhersehbar erscheint.
Vielleicht bräuchte es gerade jetzt manchmal das Leichte, das Unbeschwerte und wir empfinden es doch bisweilen als unerträglich leicht und oberflächlich und sehnen uns nach Bedeutsamkeit und Tiefe und Beständigkeit.
Wir hatten uns bisher vielfach nicht die Mühe gemacht, über unseren Tellerrand zu blicken und waren in unserem eigenen Leben oft mehr als genug gefordert – so schien es.
Aber jetzt merken wir, dass es Zeit ist, hinzusehen, wahrzunehmen und beide Seiten der Medaillen, die wir täglich in den Händen halten anzuschauen.
Was umgibt uns?
Was nehmen wir wahr?
Wie nehmen wir andere wahr?
Wie gehen wir miteinander um?
Wie gehen wir mit der Natur um?
Was kaufen wir ein? ….Und wo?
Sind wir achtsam genug?
Sind wir offen und freundlich anderen gegenüber? –…. und uns selbst?
Hilfsbereit?
Wertschätzend?
Liebevoll?
Alles hängt zusammen und bedingt sich gegenseitig – alles ist verbunden, wir alle sind verbunden. Und sowohl das Schwere, als auch das Leichte – und alles, was dazwischenliegt – sind Teil unseres Lebens. Und ist es nicht so, dass wir die Leichtigkeit nur dann als solche erfahren können, wenn wir zuvor das Schwere zumindest erahnt haben? Wie sonst könnte man Glücklichsein und Freude schätzen, ohne je zuvor Enttäuschung oder Traurigkeit gespürt zu haben? Würden wir unsere Leben wirklich wertschätzen und in vollen Zügen genießen, wenn wir nicht auch düstere Zeiten durchlebt hätten?
Eben diese Gegensätze und die Vielschichtigkeit und die dadurch entstehende Tiefe sehe und spüre ich auch in den Arbeiten von Edith Groß, da ist nichts Banales, keine unerträgliche Oberflächlichkeit, nichts nur so hingemaltes… Ihre Arbeiten sind auch nicht in eine Schublade zu stecken, sondern immer wieder neu und anders. Oft abstrahiert, manchmal abstrakt vermitteln sie dennoch so viele Details, die alle Sinne ansprechen und Geschichten, Gefühle und Bilder IN uns entstehen lassen.
Edith Groß zeigt uns in ihren Arbeiten das ganze Kaleidoskop des Lebens – in all seinen Farben und Facetten und mit allen Zwischentönen und Schattierungen.Nicht nur hell und dunkel, sondern auch laut und leise, duftig und schwer, überlagert und durchscheinend….
Ihre Arbeitsweise ist eher intuitiv als planend.
Sie bringt das auf die Leinwand, was sie in sich spürt, was von Bedeutung ist, voller Achtsamkeit. Und jede Arbeit ist für sie eine neues Experiment, eine neue Herangehensweise, ein Ausprobieren neuer Materialien, ein Umsetzen neuer Gedanken und Inspirationen…
Ganz bewusst wollte ich hier NICHT auf einzelne Bilder eingehen, um IHRE eigene Wahrnehmung nicht einzuengen…Lassen sie beim Gang durch die Ausstellung die Bilder in aller Ruhe auf sich wirken, lesen sie vielleicht die Beschreibungen, und fragen sie auch gerne die Künstlerin selbst, wenn sie etwas genauer wissen möchten…
Aber vor allem – haben sie viel Freude dabei.
Genauso neugierig und voller Begeisterung wie die Künstlerin ihre Arbeiten angeht, möchte ich sie nun in diese Ausstellung entlassen – voller Vorfreude auf all das Wunderbare, was es hier zu entdecken gilt…
Schauen sie, mit offenen Augen und offenen Herzen.
Erfühlen sie und nehmen sie die Stimmungen wahr – in den Bildern und in ihnen selbst. Riechen sie den Duft der zarten Grünschattierungen. Hören sie die Töne, die die Bilder in ihnen anschlagen –
stille und nachdenkliche
oder laute und fröhliche
oder leise und zarte …
Lassen sie sich faszinieren, lassen sie sich entführen.
Ich wünsche ihnen eine spannende Entdeckungsreise in die ganz besondere Welt der Bilder der Künstlerin Edith Groß.
Ute Kronenberger